Über die Notwendigkeit des Prüfens und Benotens

GASTKOMMENTAR VON MARIAN HEITGER (Die Presse) 08.10.2002

 

Ohne Prüfen kann sich ein Jugendlicher nicht entfalten - ein Bärendienst für Schüler.

Der Autor ist emeritierter Universitätsprofessor für Erziehungswissenschaften.

 

Daß die Schul- und Bildungspolitik in den beginnenden Wahlkampf hineingezogen werde, das war zu erwarten. Zu wichtig sind die Fragen, als daß sie nicht in der politischen Auseinandersetzung ein besondere Rolle zu spielen hätten. Zu befürchten war allerdings auch, daß die bildungs- und schulpolitischen Diskussionen mit einem Thema beginnen, das für populistische Verführungen besonders anfällig ist. Denn unabhängig davon, ob man Prüfung für notwendig oder als überflüssig ansieht, allemal wird sie als unangenehm empfunden; von den Schülern und Eltern ohnehin, aber auch von manchen Lehrerinnen und Lehrern. Prüfung wird abgelehnt, weil in ihr ein letzter Rest jener Lehrerherrschaft vermutet wird, der in früheren Jahren als Amtsautorität vielfach zur Unterdrückung des jungen Menschen mißbraucht wurde.

Prüfungen sind Anlaß und Aufforderung zur Selbstbetrachtung. In der Prüfung soll der Lernende über sich selbst, über sein Wissen und Können Auskunft geben. Selbstbetrachtung ist, wenn sie ernsthaft betrieben wird, für jedermann ein Wagnis. Die Neigung, sich ihr zu verweigern, ist naheliegend.

Jugendliche sind unsicher. Die einen neigen zu leichtfertiger Überschätzung ihrer selbst, die anderen verfallen in Resignation und Mißachtung ihrer eigenen Möglichkeiten. Pädagogische Hilfe ist hier geboten; als Aufforderung für die einen, als Korrektur für die anderen. Immer zeigt Selbstbetrachtung die eigenen Grenzen im Wissen und Können und schließlich auch in der Haltung. Sie paßt nicht so recht in die Fun-Gesellschaft. Ihre Abschaffung sucht sich als Ausdruck der Parteinahme für das Kind zu empfehlen. Das ist opportun.

Wenn man sie aber nicht abschaffen kann, denn das verstößt gegen das heute wieder geltende Leistungsprinzip, dann will man zumindest ihren Druck mildern. Nichts leichter als das; wenn man den Schummelzettel, den leichten Betrug, legalisiert, ihn gar noch vom Lehrer abzeichnen läßt. Er dürfe aber, wie "Die Presse" am 1. 10. berichtete, nicht größer als fünf mal fünf cm sein.

Weiter, so der Vorschlag zur Entschärfung der Prüfung, solle man in der nächsten Fachstunde den Schülern noch einmal für ca. 20 Minuten die Gelegenheit geben, ihre Arbeit selbst zu korrigieren. Die Ernsthaftigkeit der Prüfung mit der Aufforderung nach Selbstbetrachtung wird untergraben.

Offenbar ist nichts so schwachsinnig, als daß es nicht in die Gedankenwelt reformfreudigen und zumeist populistischen Denkens Aufnahme findet.

Die Propagandisten derartiger Vorschläge nehmen der Prüfung ihren pädagogischen Sinn. Sie verweigern dem Schüler jene Hilfe, auf die er zur Bildung seiner selbst angewiesen ist. Ohne Möglichkeit des Prüfens entartet das Wissen zum Sammeln autoritär behaupteter Daten, Erziehung entartet zu einer Verhaltenssteuerung, die man genauso gut mit Tieren betreiben kann.

Pädagogisch verbrämte Vorschläge, populistisch oder ideologisch motiviert mit dem Blick auf das sogenannte Wohl des Kindes entpuppen sich bei kritischer Betrachtung als Verhinderer von Bildung, wenn diese Ausdruck von bedachter Rede und besonnenem Handeln sein will. Was als autoritäres Gehabe des Lehrers diskriminiert wird, zeigt seine Notwendigkeit als Hilfe zum Werden der Persönlichkeit; wenn diese nicht in maßloser Überschätzung ihrer selbst zum rückhaltlosen Macher wird, der eben nicht gelernt hat, sich über sich selbst Rechenschaft zu geben.